Das Dröhnen der Stille
„Kommst du mit rein?“
„Ich weiß nicht.“
„Schon gut, ich schaff´ das schon.“
„Ja.“
Langsam atmete Ellen durch den Mund aus, durch die Nase ein und durch den Mund wieder aus. Es war heiß in dem Wartezimmer. Stickige Luft umgab sie, wie eine unsichtbare Wolke und von dem Eingangsbereich vernahm sie die Stimme der Arzthelferin, die leise telefonierte. Ellen lief ein kleiner Schweißtropfen in den Nacken. Es kitzelte ein bisschen. Nervös wischte sie ihn mit ihrer Hand weg.
Anton saß auf dem Stuhl neben ihr. Er hob kurz den Blick als eine ältere Frau das Zimmer betrat und senkte ihn dann rasch wieder, um abermals auf seine Füße zu starren.
„Ellen Mey!“
Erschrocken blickte Ellen zur Tür. Noch einmal ein zitterndes Einatmen. Die Hände klebrig von der Feuchtigkeit, die Menschen umgibt, wenn die Anspannung und der Stress einen zu großen Raum einnehmen. Wenn plötzlich das Atmen anstrengend wird. Wenn das Cortisol nicht mehr so schnell abgebaut werden kann. Ein physischer Vorgang, ausgelöst durch die Psyche. Die Arzthelferin gab Ellen zu verstehen, ihr zu folgen.
„Sieht aus, wie eine kleine Banane.“
Die Gynäkologin lächelte leicht über ihre eigene Assoziation. „Und hier, siehst du dieses Flattern? Das ist das kleine Herz.“
Ellen blickte wie in Trance auf den Bildschirm, der vor ihr an der Wand hing. Sie fühlte sich, als wäre eine Blase um sie herum. Ein Rauschen in ihren Ohren. Stoßweise und gleichbleibend. Wie die einzelnen Teile einer Maschine, die dieselben Bewegungen immer und immer wiederholen.
Die Stimme der Ärztin nahm sie nur gedämpft wahr. „Also, Sie melden sich dann bitte bei uns, sobald Sie eine Entscheidung getroffen haben. Alles Gute!“
Ellen nickte, nahm ihre Tasche und ging aus der Praxis. Ihre Bewegungen fühlten sich fremd an, ihre Gliedmaßen taub. Als Anton Ellen am Wartezimmer vorbei gehen sah, sprang er auf und folgte ihr. Sie bekam es kaum mit. Als sie die klare, kalte Luft einatmete, sobald sie durch die große Tür am Ausgang des Treppenhauses trat, bekam Ellens Umfeld wieder Farbe und Kontur. Ihre Lunge wurde mit frischer Luft versorgt, die Gedanken in ihrem Kopf wurden greifbarer.
„Da schlägt ein zweites Herz in mir.“ Ihre Stimme klang belegt.
Anton blickte sie an und doch durch sie hindurch. Seine Lippen waren leicht geöffnet, Worte scheinbar schon auf der Zunge, doch er brachte sie nicht heraus.
Ellen stand einfach da. Sie sah die kahlen Bäume um sie herum, die ihre Äste in den grauen Himmel streckten, wie die Finger von Ertrinkenden, die noch ein letztes Mal ihre Hände Richtung Wasseroberfläche recken, die sie doch nie mehr erreichen werden. Ein trostloses Bild.
Die Wärme von Antons Atem erzeugte leichten Dampf um sie beide. Doch das Gesagte brachte eisige Kälte, die Ellens Brust zusammenzog.
„Mir ist das alles zu viel. Ich muss hier weg.“
Sie blickte ihm nach, während er davonging. Den Kopf gesenkt, als wären seine Gedanken zu schwer, zu belastend geworden. Als würden seine Schultern ihm irgendwie Halt geben wollen.
Halt. Den hätte Ellen auch gebrauchen können. Doch da war niemand. Sie war allein. Und doch schlug ein zweites Herz in ihrem Körper. Dieser Gedanke erschien ihr so surreal. Nicht greifbar. „Darf ich mal?“ Eine Frau, die einen Stock als Stütze zum Gehen brauchte, wollte an Ellen vorbei. Sie trat einen Schritt zur Seite und bekam ein Nicken zurück. Ihre Gelenke fühlten sich wie eingefroren an. Sie hatte lange an dieser Stelle gestanden. Sich nicht bewegt. Nur geatmet und die Bäume angeschaut. Hätte sie sich bewegt, wäre das Leben weitergegangen. Doch wie sollte jetzt alles weitergehen? Wie kann die Welt sich einfach weiterdrehen, als wäre nichts geschehen?
Anton musste längst zuhause sein. Ellen bemerkte, dass sie zitterte. Ob von der Kälte, die träge, jedoch unaufhaltsam unter ihren Mantel, durch ihre Strumpfhose glitt oder vor Überforderung, konnte sie nicht ausmachen. Langsam setze sie einen Fuß vor den anderen, eher mechanisch, als bewusst, bis sie vor ihrer Haustür stand.
„Wie lief die Klausur?“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus der Küche. Die Gerüche, die aus den Töpfen in den Flur waberten, waren zu viel für Ellen. Alles war zu viel. Während sie, wie in Zeitlupe, die Treppe hinaufstieg quälte sie sich ein monotones „Ja, gut.“ raus. Als sie ihre Tür geschlossen hatte, stach etwas in ihr Herz. Niemand folgte ihr. Der Schmerz biss mit scharfen kleinen Zähnen zu, immer und immer wieder. Etwas stieg in ihr hoch. Langsam, schwer und ausbreitend. Die Tränen tropften auf ihren Kuschel-Hasen, den sie an sich presste. Er war der Einzige, der für sie da war. Er blieb, während die Anderen davonliefen, nur arbeiteten, für sich selbst interessierten. Die Verzweiflung machte das Atmen schwer. Ellen sah ein Bild vor sich, wie eine scheinbar glückliche Frau ihren Bauch streichelte, die Augen voller Liebe. War sie denn überhaupt schon eine Frau? Langsam schob ihre Hand das Wollkleid hoch und legte sich auf die nackte Haut ihres Bauches. Ellen kam sich vor, wie eine Verräterin. Heuchlerisch. Sie spürte nichts. Keine Liebe, keinen Hass. Einfach nur pure Verzweiflung. Der Blick aus dem Fenster zeigte nur den grauen, dunkler werdenden Himmel. Die kargen Ast-Finger. Ellen verlor sich in diesem Anblick. So war es leichter, die Gedanken, die Sorgen, die Ängste nicht real werden zu lassen. Gleichzeitig fühlte sie sich allein. So allein.
Es klopfte. Anton kam in ihr Zimmer. Den Blick wie so oft gesenkt. Die Stille nahm den ganzen Raum ein und drückte Ellen an die Wand. Ihr Herzschlag war so mächtig, dass er ihren ganzen Körper zum Pulsieren brachte. Anton nahm es wahrscheinlich gar nicht war. Seine Haut war bleich, wie der Nebel, der durch die Straßen der Stadt waberte. Die Welt, wie Ellen sie kennen gelernt hatte, war eine Vergangene. Die Erde begann zu beben. Als würde sich der Boden teilen. Angst und Verzweiflung stürmten diese friedliche Welt. Machtübernahme und Kontrollverlust, Seite an Seite. Etwas in Ellens Innerem zerriss und brachte den Moment ins Wanken. Stumme Tränen suchten sich einen Weg über ihr Gesicht. Sie blickte zu Anton. Der Boden vibrierte, die Luft um sie herum ein Flimmern. Alles bebte. Langsam hob er seinen Kopf. Die Haare hingen über seine Stirn, schlaff und hoffnungslos. Sein Blick fand endlich den Ihren und eine Träne befreite sich zaghaft aus seinem linken Auge.